Pascal: Gründe der Vernunft und Gründe des Herzens

Pascal: Gründe der Vernunft und Gründe des Herzens
Pascal: Gründe der Vernunft und Gründe des Herzens
 
Einer der zahlreichen Kritiker René Descartes' war Blaise Pascal, der schon allein deswegen berufener als viele andere argumentieren konnte, weil er wie Descartes das Erkenntnisideal der mathematischen Exaktheit pflegte. Blaise Pascal war Sohn eines hohen Steuerbeamten aus Clermont-Ferrand in der Auvergne. Schon als Kind soll er die »Elemente« des Euklid, das Lehrbuch der griechischen Mathematik überhaupt, gelesen haben. 1640, kaum 17 Jahre alt, veröffentlichte er in einem Aufsatz über Kegelschnitte den »Pascalschen Satz«, einen der wichtigsten Sätze der Geometrie. Um seinem Vater die Rechenarbeit zu erleichtern, erfand er die erste rein mechanische Rechenmaschine, die »Pascaline«; nach ihr wurde 1972 die Programmiersprache »PASCAL« benannt. Daneben bemühte er sich um den Beweis der Existenz des Vakuums. Nach seinen Anweisungen konnte in einem Experiment nachgewiesen werden, dass das Vakuum über einer Quecksilbersäule in einer Glasröhre von der Höhe des Standorts abhängt. Damit hatte er die Wirkung des Luftdrucks im Barometer und das Prinzip des Höhenmessers entdeckt.
 
Im Unterschied zu Descartes wollte Pascal das Erkenntnisideal der Mathematik noch übersteigen. Hierzu dienten ihm Reflexionen über die Funktion des geometrischen Denkens. In den beiden Fragmenten »Der geometrische Geist« und »Die Kunst zu überzeugen« stellt er die geometrische Methode gleichermaßen als Ideal wie als »bloße« Idealmethode dar. Zwar gehen die Geometer zunächst von klar und eindeutig definierten Begriffen aus, aber zu jeder Definition gebrauchen sie Wörter, die wiederum der Definition bedürfen (zum Beispiel »Bewegung«, »Zahl«, »Raum«). Die Gewissheit der geometrischen Methode beruht also nicht auf der (den definierten Gegenständen zu Grunde liegenden) Sachen, sondern auf der Genauigkeit des sprachlichen Umgangs mit ihnen. Daher verhält sich diese Methode wie ein Vexierbild: Einerseits ist sie die sicherste aller Methoden, andererseits sind alle Definitionen bloße Namensdefinitionen, die zwar nicht zu bestreiten sind, aber frei festzulegen und dementspechend auch willkürlich sind. Die Methodendiskussion legt also offen, dass es einen Zugangsbereich des Wissens gibt, der selbst nicht mehr bewiesen werden kann: die Einsicht. Nach Pascal hat der Mensch »zwei Eingänge, durch welche Meinungen in der Seele aufgenommen werden: Verstand und Wille«. Ähnlich sagt er an anderer Stelle: »Geist und Herz sind wie zwei Türen, durch die die Wahrheiten in der Seele empfangen werden«; die meisten jedoch gehen für ihn durch das Herz. Deshalb müssen die Themen der Argumentation (dem Herzensgefühl) derjenigen Person angepasst werden, die überzeugt werden soll. Pascal greift hier Argumente der humanistischen Rhetorik, zum Beispiel Lorenzo Vallas auf, um sie als die wichtigste Klippe wissenschaftlicher Beweise zu markieren. Denn für die rationale Überzeugung kann man Regeln aufstellen, nicht aber dafür, wie man Zustimmung durch Gefallen erzeugt.Zwei Denkweisen, die gleichermaßen sein Leben wie seine Schriften bestimmen sollten, führt Pascal hier zusammen: die Perfektion der Wissenschaft und die Irrationalität der Seele. Zwischen beiden bewegt sich der Mensch.
 
Die beiden genannten Fragmente fanden Eingang in die berühmte »Logik von Port-Royal« von Antoine Arnauld und Pierre Nicole. Port-Royal war das Zentrum des Jansenismus, ein Frauenkloster, dessen Beichtvater Jean Du Vergier de Hauranne eine Gruppe von Intellektuellen um sich scharte, die sich um eine religiöse Reform in Frankreich bemühten. Auch Pascal und seine ebenfalls hoch begabte Schwester Jacqueline standen unter dem Einfluss von Port-Royal. In Anlehnung an den Löwener Theologen Cornelius Jansen und dessen Auslegung der Augustinischen Schriften pflegten seine Anhänger eine individualisierte und verinnerlichte Frömmigkeit. Der katholische Jansenismus hatte Ähnlichkeit mit der protestantischen Theologie und erregte daher den Ärger der Jesuiten sowie König Ludwigs XIV., der Port-Royal 1709 auflösen und zwei Jahre später seine Gebäude niederreissen ließ.
 
Die religionspolitischen und spirituellen Debatten um den Jansenismus veranlassten Pascal nicht nur, polemische Schriften gegen die Theologie und die Politik der Jesuiten zu verfassen, sondern führten auch zu dem Plan einer großen Verteidigung des Christentums gegen die Skeptiker und die Rationalisten. Von dieser geplanten »Apologie« sind nur (rund 1000) Fragmente erhalten, die unter dem Titel »Pensées sur la religion« (Gedanken über die Religion) nach seinem Tod gedruckt wurden. Vermutlich wollte Pascal, beeinflusst von der Analyse des Menschen durch den Humanisten Michel de Montaigne, in methodischen Schritten die Wahrheit des Christentums beweisen. Vieles in den Fragmenten ist jedoch orakelhaft. Ob der Autor sie je zu einem vollendeten Traktat ausarbeiten wollte, kann daher bezweifelt werden. Die verschiedenen Editionen, die nach Pascals Tod veröffentlicht wurden, mit ihren unterschiedlichen Lesarten und Anordnungen der Fragmente führten jedenfalls nicht zur erhofften Klarheit, sondern zu immer neuen Interpretationen. Anders als in den Schriften des jugendlichen Mathematikers herrscht in den meisten Fragmenten der »Pensées« ein dem Glauben ergebener, beinahe melancholischer Ton gegenüber Wissenschaftsoptimismus und Rationalit vor, etwa: »Ich bin dafür, die Ansicht des Kopernikus nicht weiter zu vertiefen, sondern dies. ..! Es ist für das ganze Leben wichtig zu wissen, ob die Seele sterblich oder unsterblich ist.« Für den späten Pascal »lastet die Hand Gottes« durch die Ungewissheit der Erlösung auf dem Menschen. Aber gerade diese Ungewissheit, die für die menschliche Unwissenheit überhaupt steht, ist ihm im Vertrauen auf »einen, der weiß« ein Gottesbeweis.
 
Wie Pascal Rationalität im Dienste von Innerlichkeit einsetzt, um mathematisch-wissenschaftliches Denken für den Glauben in die Pflicht zu nehmen, oder umgekehrt, um die Vernünftigkeit des Gottvertrauens zu beweisen, zeigt die berühmte »Pascalsche Wette«, deren Frage lautet: »Kann man sich aus der Frage nach der Existenz Gottes heraushalten?« Man kann es nach seiner Auffassung deshalb nicht, weil es unlogisch wäre, den. Christen vorzuwerfen, gegen die Vernunft an Gott zu glauben, sich aber selbst der Frage zu enthalten. Mit Vernunft kann man aber weder die Existenz noch die Nichtexistenz Gottes beweisen. »Man muss also wetten.« Worauf soll man wetten - dass Gott existiert oder dass er nicht existiert? Entscheidend sind nach Pascal Einsatz und Risiko: Vernunft steht gegen die Seligkeit. »Wägen wir also Gewinn und Verlust ab, und setzen wir auf Kreuz, dass Gott existiert. Schätzen wir beide Fälle ein: wenn Sie gewinnen, gewinnen Sie alles [die ewige Seligkeit]; wenn Sie verlieren, verlieren Sie nichts [denn die Vernunft bleibt im Recht]. Setzen Sie also ohne Zögern darauf, dass er existiert.«
 
Rationalität und Innerlichkeit sind hier dialektisch verschränkt, denn die Ironie der Wette liegt darin, dass sie nicht dem Wahrscheinlichkeitskalkül des Mathematikers entstammt, sondern seinem Willen zum Glauben: »Das Herz hat seine Gründe (raisons), die die Vernunft (raison) nicht kennt.« Und es ist das Herz, das sich dem Unendlichen oder sich selbst zuwendet: »ist es denn die Vernunft, warum ihr euch selbst liebt?«
 
Prof. Dr. Paul Richard Blum
 
 
Geschichte der Philosophie. Mit Quellentexten, begründet von Karl Vorländer. Neu herausgegeben von Herbert Schnädelbach u. a. Band 2 und 3. Reinbek 1990.
 
Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, herausgegeben von Rüdiger Bubner. Band 3: Renaissance und frühe Neuzeit, herausgegeben von Stephan Otto. Neudruck Stuttgart 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

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